77 Bronzestelen aus Deutschland für Gedenkstätte in Norwegen
Am 22. Juli 2011 tötete ein Attentäter im Regierungsviertel der norwegischen Hauptstadt Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen. Seit Mitte Juni 2022 ist die nationale Gedenkstätte für die Opfer und ihre Angehörigen dieses Terroranschlags öffentlich zugänglich. Das von dem Architekturbüro Manthey-Kula Architects aus Oslo in Zusammenarbeit mit dem Büro für Landschaftsarchitektur Bureau Bas Smets aus Brüssel konzipierte Mahnmal stellt das Ende einer jahrelangen Diskussion um den Bau dieser Gedenkstätte dar. Die Kunstgießerei Strassacker aus Süßen in Deutschland fertigte und montierte die 77 massiv aus Bronze gegossenen Stelen.
Der Standort der Gedenkstätte war lange umstritten. Jonas Dahlberg, ein schwedischer, vor allem für seine Videoinstallationsarbeiten bekannter Künstler, hatte vorgeschlagen, eine Schneise in einen Felsvorsprung auf dem Festland gegenüber der Insel Utøya zu graben. Sein Entwurf löste Unmut aus und war an Protesten gescheitert. Als die Regierung im Sommer 2017 beschloss, die Gedenkstätte in anderer Form, jedoch an der gleichen Stelle zu errichten, löste dies erneut gemischte Gefühle bei den Anwohner*innen aus. Es gab die Furcht vor Betroffenheitstourismus, einer Re-Traumatisierung der 2011 an der Rettungsaktion beteiligten Anwohner*innen und vor allem die Sorge, ein solches Mahnmal könnte durch Rechtsextremisten missbraucht werden. Eine Reihe von Nachbarn klagte. Ein Gericht genehmigte dann Anfang 2021 den Bau.
Ein Ort der Trauer und der Hoffnung
Die Gedenkstätte liegt etwa 30 Kilometer nordwestlich von Oslo an einem Ufer neben dem Anleger der Fähre zur Insel Utøya. Auf der Insel hatte der Attentäter 69 überwiegend junge Menschen erschossen. Zuvor hatte er im Osloer Regierungsviertel eine Bombe gezündet. Dort starben acht Menschen. Der Hergang der Tat ist rekonstruiert. Begreifbar ist er bis heute nicht. Wie umgehen mit dem Unfassbaren? Für Beate Marie Hølmebakk und Per Tamsen, Inhaber des Osloer Architekturbüros Manthey Kula, ist die Gestaltung der Gedenkstätte der Versuch einer Auseinandersetzung mit dem Verlust, dem Schmerz und dem Tod; einerseits. Andererseits bestand für die Architektinnen eine der Herausforderungen darin, eine Verbindung zwischen den brutalen Ereignissen von vor über zehn Jahren mit der Schaffung einer sicht- und fühlbaren Brücke in die Zukunft zu schaffen. Ihr Büro habe kein Kunstwerk entworfen, betonen sie. Für die Architektinnen ist die Gedenkstätte ein Ort der Trauer und des Trostes und – ganz bewusst – auch der Hoffnung, Freude und des unbeschwerten Lebens.
Die Zeit des Terrors sichtbar machen
Am Ufer des Tyrifjorden entstand auf einer weiträumigen Terrasse aus hellem, norwegischem Granit, von der etwa 20 Zentimeter hohe Stufen ins Wasser führen, eine Gedenkstätte aus 77 Stelen aus Bronze. Jede dieser in sich unterschiedlich gedrehten Stelen ist drei Meter hoch. Angeordnet sind sie in einer zweigeteilten, konkav-konvex geschwungenen Form, die einem verzerrten S oder dem Fragment einer Welle ähnelt. Diese etwa 50 Meter lange Stelen-Reihe ist am oberen Ende mit einem durchgehenden, ebenfalls aus Bronze gegossenen, Band verbunden.
Der Schattenwurf der exakt berechneten Anordnung und Ausrichtung jeder einzelnen Stele bezieht sich auf den Stand der Sonne und deren zeitlichen Verlauf während des Anschlags am 22. Juli 2011. Ein erster, kleinerer – konvexer Bogen – ist auf den Sonnenstand zu Beginn des Attentats mit der Bombenexplosion im Osloer Regierungsviertel um 15.25 Uhr ausgerichtet. Der zweite, größere – konkave Bogen – spiegelt den Verlauf des Sonnenstandes während des Attentates auf der Insel Utøya – von der Ankunft des Attentäters um 17.21 Uhr bis zu seiner Festnahme um 18.33 Uhr – wider. Jede der Stelen steht für einen getöteten Menschen; 8 in Oslo, 69 auf der Insel Utøya. Die Inschriften der Namen der Opfer wurden als Reliefs im Negativschnitt mit unterschiedlichen Neigungsflächen in die Bronzestelen eingearbeiteten.
Hohe Anforderung an die Guss- und Bearbeitungstechnik
Jede dieser überlebensgroßen, unterschiedlich gedrehten Stelen und auf Wunsch der Architekt*innen, massiv gegossenen Stelen wiegt etwa 400 Kilogramm. Ein Gussverfahren, das für jede Stele eine eigene Gussform und – bedingt durch die technisch notwendigen Angusssysteme weitere 400 Kilogramm Bronze – für jeder der Stelen nötig machte. Ein aufwendiges und ungewöhnliche Gussverfahren, das auch Auswirkungen auf die Beschaffenheit der Oberfläche jeder einzelnen Stele hat, wie Günter Czasny, stellvertretender Geschäftsführer der Kunstgießerei Strassacker und für die Fertigung und Montage der Stelen verantwortlich, erläutert. Darüber hinaus gab es weitere Anforderungen der Architekt*innen: So war gefordert, dass im unteren Bereich die Stelen die Charakteristik einer rauen, unbearbeiteten (Guss-)Oberfläche erhalten, die dies bis zum oberen Abschluss in eine fein geschliffene und glänzende Fläche übergeht, deren filigranen Lichtkanten und unterschiedlich geneigten Flächen vielfältige Lichtreflexionen erzeugen. Eine weitere Anforderung war der exakte senkrecht Kantenverlauf und die daraus resultierende Lichtkanten, die die individuelle Drehung jeder einzelne Stele besonders hervorhebt, das Licht der Sonne reflektiert und so für den gewünschten Schattenwurf jeder einzelnen Stelen auf dem Boden sorgt.
Trost, Hoffnung und Zuversicht
Die Solidität und die haptische Qualität der massiven Stelen, ihre sorgsam ausgeformten Oberflächen und ihre präzisen Kanten sind beeindruckend. Die Stelen sind zwar gleich hoch und gleich breit, doch jede der Stelen ist anders, individualisiert durch die Drehung, durch die persönlichen Namenstafeln, die individuellen Oberflächen und die präzise Ausarbeitung der Kanten. Der durch die Positionierung der Stelen hervorgerufene Schattenwurf erinnert an eine Sonnenuhr; ein erst auf den zweiten Blick sichtbares Zeichen von Vergänglichkeit und Zukunft.
Am 11. Juli 2011 wurden in der Innenstadt von Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen getötet. Diese Menschen waren unterschiedlich alt, unterschiedlich groß, hatten eine unterschiedliche Orientierung. Ohne figurative Elemente, realistische Darstellungen oder narrative Komponenten gelingt es dieser Gedenkstätte das Grausame, das dort vor elf Jahren passiert ist ins Bewusstsein jedes einzelnen Besuchenden zu rufen. Das Mahnmal bietet den Betroffenen heute Trost und morgen Hoffnung. Es berichtet davon, was am 11. Juli 2011 geschehen ist; auch dann, wenn niemand mehr da sein wird, der von der Explosion in Oslo und den wahllosen Schüssen auf der Insel Utøya erzählen kann.